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Aufbruch und ingenieurtechnische Leistungen der Neuzeit

Autoren:
Burkhard Pahl

Gesellschaftliche Umbrüche, die Neuordnung der politischen Strukturen und gravierende Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik kennzeichnen ab ca. 1750 den Aufbruch in eine neue Zeit in Westeuropa und Nordamerika.

Die Schlote der Manufakturen, Hüttenwerke und Kraftzentralen (Dampfmaschine) wurden zum sichtbaren Symbol der neuen Zeit. Die Dynamik und Herausbildung neuer Bauweisen war zunächst eng mit der Entwicklung des Eisens zum Stahl, als nutzbarem Baustoff, verknüpft. Kannte man Eisen bisher nur als Verbindungsmittel, Maueranker oder als Werkzeug und Waffe (Schmiedeeisen), gelang mit der Entwicklung von qualifizierten Hochöfen, der Verwendung von Steinkohle und Reduktion des Kohlestoffgehaltes der Durchbruch zu vielfältig belastbaren Tragwerksteilen (Ablösung des spröden Gusseisens durch zug- und biegebeanspruchbare Bauteile).

Mit der Entwicklung von Walzprofilen nebst Blechen und der Nietverbindung waren die Voraussetzungen für neuartige und weitgespannte Konstruktionen gegeben. Es waren dies insbesondere Bauten der Infrastruktur, Industrie und neuartiger Bauaufgaben, für die es teilweise keine Vorbilder gab. Turmartige Bauwerke wie Fördertürme, Gasometer, Wassertürme, aber auch Masten und Leuchttürme bedienten sich der neuen Werkstoffe.

Die neuen Bauaufgaben basierten auf einer sich heraus bildenden ingenieurtechnischen Logik und Formensprache (minimalistischer Materialeinsatz, der Tragwerkslogik folgend), jenseits der gängigen Architektursprache. Zwitterhafte Wesen sind uns überliefert: Bahnhöfe mit Empfangsgebäuden im historischen Stil der Zeit und Bahnhofshallen in filigranster Stahl-Glas-Bauweise. Wassertürme, auf gemauertem Sockel mit Portikus, ornamentaler Gestalt und mit aufgesetzter Kugel aus genieteten Blechen. Berndund Hilla Becher[14] haben diese Zeugnisse technischen Bauens für die Nachwelt in hervorragenden Fotografien festgehalten.

Die Frage der Akzeptanz der ingenieurtechnischen Lösungsansätze spitzte sich ab 1850 zu und manifestierte sich an zahlreichen Bauwerken, insbesondere an innerstädtischen Bauaufgaben und den Entwürfen für die Bauten der aufkommenden Weltausstellungen, welche den technologischen Leistungsstand dokumentierten.

Der Eiffelturm [Schädlich, 15] war zunächst umstrittenes Zeichen der Weltausstellung von 1889 in Paris. Ein Ziel war das Erreichen der magischen Höhe von 1000 Fuß. Der Turm der Weltausstellung von 1889 (100 Jahre französische Revolution) begründete darüber hinaus den Typus von Messetürmen, welche bis heute weithin sichtbares Zeichen für Veranstaltungsflächen sind (Stockholm Exhibition 1930, Hannover Messe u. a.). Die entwurfliche Entstehungsgeschichte des Eiffelturms [15, ebenda] spiegelt den Konflikt zwischen reiner ingenieurtechnischer Konstruktion (filigranes Fachwerk) und ornamentaler Überformung mit dekorativen Elementen und mächtigen Bögen an der Basis (Abbildung 4, 5).

Abbildung 4: Entwurfliche Entstehungsgeschichte des Eiffelturms nach Gegenüberstellung von Schädlich [15]: 1. ingenieurtechnischer Entwurf, E.Nouguier und M. Koechlin zugeschrieben; 2.architektonische Überformung durch S. Sauvestre; 3. Ausführungsentwurf;

 

Abbildung 5: Eiffelturm, Paris, untergesetztes, dekoratives Bogenfragment an der Turmbasis

Der Konflikt ist heute noch im gebauten Kompromiss (s. a. untergehängtes Bogenfragment) sichtbar. Er wäre, wie die ‚galerie de machine‘ und andere Ausstellungsbauten vermutlich abgerissen worden, hätte nicht das Militär rechtzeitig seinen Nutzen als Antennenmast erkannt. In der Tat wurde die Verbreitung von Elektrizität und Funktechnologie zu neuartigen Bauaufgaben für turmartige Bauwerke.

Der eingangs erwähnte Vladimir Šuchovwar bedeutender Pionier von in filigranster Bautechnologie errichteten Türmen. Es ist das Verdienst von Rainer Graefe[16] und des Institutes für leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart aus den 80er Jahren, dass wir die Leistungen Šuchovsheute gut recherchiert und in deutscher Sprache nachvollziehen können. Der 1853 geborene und gut ausgebildete Chefingenieur des russischen Unternehmers Bari (später russisches Staatsunternehmen), erfahren mit Materialknappheit und Konkurrenzkampf entwickelte u. a. zylindrische Erdölbehälter aus dünnwändigen Blechen, netzartige Hängedächer, Gitterschalen und ab 1896 (Patenteinreichung) netzförmige Türme auf Basis von Hyperboloiden. Der Prototyp entstand nach Graefe[16] auf einem Ausstellungsgelände in Niznij Novgorood 1896 mit 25,60 m Schafthöhe, aufgesetztem Wasserbehälter und Aussichtsplattform (Abbildung 6). Zahlreiche weitere Wassertürme, Leuchttürme (Adzuiogol-Leuchtturm Cherson, 1911 mit einer Schafthöhe von 68 m, heute zerstört) und Strommasten gleicher Bauart und gewaltiger Höhe folgten (Baujahr 1931 mit 60 und 120 m Höhe).

Abbildung 6: hyperbolische Tragwerke V. Šuchovs: 1. Wasserturm Niznij Novgorod 2. Adzuiogol Leuchtturm, Cherson 3. Šabolovka-Radioturm, Moskau: 1. Wasserturm Niznij Novgorod; 2. Adzuiogol 

Bedeutendstes hyperboloidisches Turmbauwerk ist der Šabolovka-Radioturm in Moskau von 1919 – 1922 mit 150 m Höhe. Ursprünglich mit 300 m Höhe geplant, sollte er den Eiffelturm überragen und mit zwei weiteren baugleichen Türmen die gesamte Sowjetunion mit Radiowellen versorgen [16, ebenda]. Materialknappheit zwang zu der kleineren Lösung von 150 m Höhe. Dennoch besticht er noch heute durch seine filigrane Bauart aus U-förmigem Stahl und horizontalen Ringen, welche die Übergänge der sechs hyperboloidischen Turmsegmente markieren.

Vorfertigung, das serielle Verwenden gleicher Bauformen und der Zwang zu ökonomisch ausgereizter Konstruktion ist auch Kennzeichen der gewonnnenen ingenieurtechnischen Reife ab ca. 1850. Die deutschsprachigen Länder sollten später Inbegriff für die Definition von Baureihen (s. Generator- und Turbinenbau von AEG, BBC und Siemens) und normierten Qualitätsstandards werden. Das Typenbauwerk wurde wesentliche Bauaufgabe für Ingenieurbauten. Zu erwähnen sind u. a. die Wassertürme der Deutschen Reichsbahn, die Schutzbauten im 2. Weltkrieg und die standardisierten Fernmeldetürme der ehemaligen Deutschen Bundespost, wovon über 237 Stück in Stahlbeton gebaut wurden.

Das Beispiel Šuchovzeigt darüber hinaus, dass unabhängig von der spezifischen Bauaufgabe gleichwertige Konstruktionsprinzipien verwendet wurden und dies wird auch in Zukunft so sein. Eine typologische Eingrenzung hinsichtlich Funktion (z. B. Wasserturm) und Konstruktionsprinzip des Schaftes (z. B. Zylinder oder Hyperboloid) ist nicht möglich. Dennoch wird gerade durch die Verschmelzung von Schaft und hoch liegendem Wasserbehälter (Funktion) das Hyperboloid für diese Bauform besonders sinnfällig, wie spätere Betonbauweisen aufzeigen.

Der Aufbruch in die Neuzeit steht auch für die gewonnene Vielfalt konstruktiver Lösungsmöglichkeiten. Am Beispiel der Leuchttürme wird deutlich, wie die tradierte Form des sich nach oben verjüngenden Schaftes aus Werkstein oder Klinker (Sinnbild der französischen und englischen Leuchttürme im Atlantik, s. a. Abschnitt 3.3.4.1) abgelöst wird durch zylindrische, genietete Röhren, weitmaschige Fachwerke und schlanke Stahlbetonsäulen, welche – ähnlich einem Kelch – auskragende großräumige Betriebsräume aufzunehmen in der Lage sind.

Neben der gewonnenen Bandbreite konstruktiver Lösungsmöglichkeiten vollzieht sich ebenso eine formale Vielfalt mit geringerer Bindung an ein konstruktiv-materiell bestimmtes Erscheinungsbild. Auch hier hat der Stahlbeton zu einer drastischen Erweiterung des Gestaltkanons beigetragen. Baugeschichtlich kann das 20. Jahrhundert auch als Siegeszug der Betontechnologie verstanden werden.

Und es waren Skelettbauten und Türme (Silos), welche Architekten in der Frühzeit der Moderne zu neuen Sichtweisen beflügelten [Banham, 17]. In einem Sonderbeitrag des Jahrbuches des Deutschen Werkbundes von 1913 über ‚die Entwicklung moderner Industriebaukunst‘ veröffentlichte Walter Gropiusamerikanische Industriebauten, welche er zwar nicht in eigener Anschauung gesehen, aber recherchiert hatte und ausreichend bebildern konnte. Le Corbusier(Herausgeber der Zeitschrift L‘ Esprit Nouveauund ‚vers une architecture‘), Erich Mendelsohnu. a. übernahmen die Bilder in Veröffentlichungen (teils falsch untertitelt) als Beleg für die Fähigkeiten des Stahlbetons und die Herausbildung einer neuen Architektursprache [17, ebenda]. So wurden die Getreidesilos der ‚Neuen Welt‘ zum Synonym für die Konstruktion und gestalterischen Möglichkeiten des modernen Bauens.

Abbildung 7: 1. Getreidespeicher Worms, 1908; 2. vermutlich erstes zylindrisches Stahlbetonsilo, Minneapolis, 1899 – 1900

Ein Blick nach Worms auf denn Getreidespeicher aus dem Jahr 1908 (errichtet durch Wayss und Freytag, Abbildung 7), nach Straßburg auf das Getreidesilo im Rheinhafen von E. Züblin, 1898, oder auf die entstehenden großen europäischen Getreidelager [Höhmann, 18] hätte gezeigt, dass die Bautechnologie dünnwandiger Silos in Europa bereits verbreitet war, wenn auch nicht so puristisch im architektonischen Ausdruck und in der Größe wie die dargestellten Silos aus Nordamerika und Argentinien.

Das erste zylindrische Kornsilo in Stahlbetonweise wurde vermutlich im Frühjahr 1900 in Minneapolis, USA, fertig gestellt, als Ersatzbauwerk für brandgefährdete Holzsilos [Schodeck, 19]. Er erreichte eine Höhe von 125 Fuß (ca. 38 m) und wurde aus bewehrtem Beton errichtet. Die Wandstärke betrug zwischen 12 und 8 Inches bei 20 Fuß (ca. 6 m) Durchmesser. Der experimentelle Charakter des vermutlich ersten zylindrischen Stahlbetonsilos wird untermauert durch die Tatsache, dass bei dem Erreichen von 68 Fuß Höhe die Arbeiten unterbrochen wurden und im Winter 1899 / 1900 eine Kornfüllung eingebracht wurde, um Verhalten zu studieren. Weiterhin ist bekannt, dass die Erbauer F. Haglinund Frank T. Heffelfingerdie Zwischenzeit nutzten, um in Europa frühe Stahlbetonkonstruktionen zu studieren, u. a. sechseckige Behälter mit runden Ecken in „Hennebique structures“ [19, ebenda]. Hennbriquehatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts entscheidend u. a. die Entwicklung von Plattenbalkendecken vorangetrieben. Berechnungsmethoden, der gezielte Einsatz von Bewehrung und die Entwicklung qualifizierter Zemente führten zu einer raschen Verbreitung und zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits zu großflächigen Überdachungen (Jahrhunderthalle Breslau 1911 – 12, Luftschiffhalle Orly 1916 – 24) und zu ersten nennenswerten Turmbauwerken – neben den o. g. und technologisch herausragenden Silobauten (Abbildung 8).

1911 errichtete Th. Möhrleden ersten Förderturm in Stahlbetonbauweise für das Steinkohlebergwerk Camphausen (Abbildung 9), Saar, in Form eines modernen Skelettbaus mit 38,70 m Höhe (vgl. Abschnitt 3.3.4.6).

Abbildung 9: Förderturm Camphausen, Baujahr 1911

Beispielhaft seien weiterhin genannt der Kirchturm der Notre Dame der Raincy in Paris mit 43 m Höhe aus dem Jahr 1922 – 1923 und der Tour d’Orientation in Grenoble mit 100 m Höhe aus dem Jahr 1925 (Ing. Auguste Perret). Aber auch die dienende Funktion des Stahlbetons in der Fundamentierung ermöglichte Hochhäuser, Bauten der Infrastruktur, Brückenpylone, Denkmäler in bisher ungeahnter Größe (vgl. Völkerschlachtdenkmal Leipzig, Abschnitt 3.3.3). An dem berühmten Einsteinturm in Potsdam jedoch scheiterten die Erbauer am Stahlbeton (präziser am Schalungsaufwand) und errichteten ihn in Ziegelbauweise mit Putzbekleidung.

Die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zeigten bei Turmbauten die virtuose Beherrschung der Stahlbetontechnologie, verbunden mit einem Streben nach Strukturform, Materialehrlichkeit im Ausdruck und einem Streben nach Darstellung einer inneren Logik der modernen Baukunst. Den Ingenieuren gelingt mit dem Schalenbau und der Spannbetontechnologie ein entscheidender Beitrag. Der Stuttgarter Fernsehturm (Abbildung 10) von 1953 – 1955 (Ing. F. Leonhardt, Architekt E. Heinle) wurde als Inbegriff für die Logik der modernen Stahlbetontechnologie und Gestaltung verstanden [Müller, 20]. Die formale Ablesbarkeit der äußeren Beanspruchung durch Wind des sich von 10,80 m auf ca. 5,10 m verjüngenden Turmes bei nahezu 160 m runder Schafthöhe (217 m Gesamthöhe) und aufgesetzter öffentlicher Nutzung (Drehrestaurant) wurde zum Leitbild einer neuen Generation von Fernmeldetürmen.

Die gegensätzliche Auffassung hinsichtlich Gestalt und Wahrnehmung innerhalb eines Weichbildes der Großstädte stellt der ca. 170 m hohe Kaknästornet in Stockholm, 1963 – 67 (H. Borgströmund B. Lindroos) dar. Auf quadratischem Grundriss erhebt sich ein 148 m hoher Schaft [20, ebenda] aus Stahlbeton mit um 45° verdreht angebrachten Plattformen. Die bewusste, formale Individualisierung der zum Wahrzeichen gewordenen Fernmeldetürme hat bis auf Ausnahmen keine nennenswerten neuen Strukturformen hervorgebracht. Typologisch ist der CN Tower in Toronto (553 m Höhe) von Bedeutung, da der Schaft in möglicher Analogie zu nordamerikanischen Baumriesen in schlanke Rippen aufgelöst, eine eigenständige formale Ausdruckskraft besitzt.

Abbildung 10: Vergleich: 1. Kaknästonet Stockholm, 1963 – 67, ca. 170 m Höhe; 2. Fernsehturm Stuttgart, 1953 – 55, 217 m Höhe; 3. Torre de Collserola, 1988 – 92, 288 m Höhe

Letztlich verweist die so genannte ‚Space Needle‘ in Seattle (223 m Höhe) auf die Möglichkeiten der formalen Auflösung in eine aussteifende filigrane Tragstruktur (als Stahlstützenpaare realisiert) und auf die Chance der Verwirklichung einer linearen und transparenten Vertikalerschließung. Konsequent wurde dieser Ansatz von N. Foster1988 – 1992 bei dem Bau des 288 m Hohen Torre de Collserola oberhalb von Barcelona genutzt (Abbildung 11).

Abbildung 11: Torre de Collserola, Barcelona

Der Fernmeldeturm von Barcelona (Abbildung 11), zeigt die neue formale Qualität in der Verknüpfung zugbeanspruchter Tragwerksteile mit einem zentrischen und druckbestahlten Stab. Mit großer Konsequenz und entwurflicher Klarheit wird ein zylindrischer Stahlbetonschaft von 4,5 m Durchmesser mit dem abgelösten Dreiecksquerschnitt der Stahlplattform verknüpft. An den Außenkanten stabilisieren Zugverbände (im oberen Bereich nicht leitende Aramidfasern) nach 3 Richtungen das Bauwerk. Die gesamte Vertikalerschließung ist außen an dem Stahlbetonschaft angebaut und durchdringt den freien Raum zwischen Schaft und Plattformen.

Ein Lösungsansatz, den die Deutsche Bundespost und ihre Nachfolgeunternehmen Deutsche Telekom wegen Wartungskosten und der Möglichkeit von Struktur zerstörenden Anschlägen nie zugelassen hat (vgl. a. Architekten- und Ingenierwettbewerb über neue standardisierte Fernmeldetürme 1986/87), (Abbildungen 12 und 13).

Abbildung 12: neue standardisierte Fernmeldetürme, DBP, 1986 / 87, Modellfoto, prämierter Wettbewerbsbeitrag

Abbildung 13: Übersicht über geplante Typentürme 210 und 216 der DBP, 1986 / 87 FMT 210: a. Schweger / Rothert; b. v. Gerkan / Kordina; c. Kammerer / Schlaich; d. Pahl* / König; e. Typenturm FTZ FMT 216: f. Typenturm FTZ; g. Bofinger / Polonyi; h. Schweger / Rothert; i. Pahl* / König; (* Arch.- und Ing.-Wettbewerb mit G. Behnisch)

Die bewusste Herausstellung der Konstruktion als Mittel der Gestalt ist Kennzeichen einer neuen Generation von Ingenieuren und Architekten, welche die Nachkriegsgeneration ablösen. Damit verbunden ist auch eine Abkehr von einem Denken in fest gefügten Materialkategorien (z. B. nur Einsatz von Stahlbetontechnologien) zu einer vielfältigen und effizienten Materialverwendung je nach gefordertem Einsatzgebiet.

Weitere neue Bauaufgaben kennzeichnen die Höhepunkte ingenieurtechnischer Turmbaukunst der Moderne. Es sind die Kühltürme und die gewaltigen Tragkonstruktionen der Ölplattformen aus Hochleistungsbetonen. Wiederum ist es das Hyperboloid, welches die Grundform darstellt. Neben Stahlbetonschalen etablierten 1974 J. Schlaichund R. Bergermannmit dem 164 m hohen Trockenkühlturm in Schmehausen eine seilverspannte Bauweise (Abbildung 14) [Schlaich, 21]. Ein oberer und unterer Druckzug fixierten ein Seilnetz aus Dreiecksmaschen und innen liegender Aluminiumbekleidung. Die Verspannung erfolgte durch einen zentrisch angeordneten Betonmast mit 180 m Höhe. Leider ist dieses Zeugnis ingenieurtechnischer Innovation nicht mehr erhalten.

Zu den ambitionierten Türmen der Gegenwart gehören Schornsteine. Während die tradierten Bauformen in Stahl und Backstein ca. 150 m Höhe erreichten, sind mit Stahlbeton und der Bündelung z. B. von 3 Schloten Bauhöhen von ca. 300 m Höhe üblich (vgl. Kohlekraftwerk Gelsenkirchen-Scholven mit 302 m Höhe und Ekibastuz, Kasakhstan, mit 422 m Höhe). Das mehrfach publizierte Aufwindkraftwerk [19, ebenda] ebenfalls in Stahlbeton geplant, sollte mit 1000 m Höhe und 120 m Durchmesser das höchste Turmbauwerk aller Zeiten werden, und dies als einfache Röhre mit einer Mantelstärke von 1,80 m – 0,30 m.

Abbildung 14: Größenvergleich kaminartiger Türme: 1. Trockenkühlturm Schmehausen, 180 m Höhe; 2. Kraftwerksschlot Ekibastuz, Kasakhstan, 422 m Höhe; 3. geplantes Aufwindkraftwerk, Australien, mit 1000 m Höhe

Die derzeit höchsten turmartigen Bauwerke sind abgespannte Sendemasten. Nach dem Einsturz des Konstantynourmastes in Polen (1991) mit 648 m ist vermutlich der KVLY-Mast, Fargo in den USA mit 628 m Höhe das höchste mastartige Bauwerk der Welt (nachzulesen in der gut strukturierten Tabellehoher Bauwerkeim Wikipedia-Internetportal [22]).

Betrachten wir zum Abschluss der Entwurfsgeschichte turmartige Bauwerke jenseits des Strebens nach der absoluten Höhe, die zeichenhaften Skulpturen und Experimentaltürme der Moderne. Auch diese operieren oftmals an der Leistungsgrenze, jedoch jeweils an der Grenze des selbst gewählten Konstruktionsprinzips. Wobei der konzeptionelle Ansatz am besten gelingt, wenn sie gewohnte Sehweisen auflösen und eine visuell erfahrbare Spannung aufbauen, z. B. aus druck- und zugbeanspruchten Teilen.

Abbildung 15: Fernmeldeturm Torre de Montjuic, Barcelona, 1989 – 92, skulpturales Zeichen der Olympiade 1992

Die maniristisch wirkenden und scheinbar schwebenden Skulpturen S. Calatravas (vgl. Fernmeldeturm Torre de Montjuic, Barcelona, 1989 – 92, Abbildung 15) sind nur aus den vorangegangenen und herausragenden Pionierleistungen Buckminster-Fullersu. a. zu verstehen.

Zwei dieser zeichenhaften Pionier-Türme gehören zum kulturellen Basiswissen: Skylon und Tensegritytürme. Der 76 m hohe Skylon (nicht zu verwechseln mit dem Skylon-Tower, Niagarafälle) des „Festival of Britain“ von 1951 in London [Picon, 23] von Ph. Powell, H. Moyaund dem Ingenieur F. Samuely stellte eine von innen beleuchtete, schwebenden Zigarredar, welche über Zugseile und 3 seitliche Pylone stabilisiert wurde. Er symbolisiert bildhaft die Befreiung von den Zwängen der Schwerkraft.

Die Begriffe Tension und Integrity verband der amerikanische Architekt und Ingenieur Buckminster Fuller(1895 – 1983) zu „Tensegrity“ und beschrieb [Krausse, 24] damit Strukturen, welche aus zugbeanspruchten und Spannung aufnehmenden Teilen derart bestehen, dass sie ein stabiles Ganzes erzeugen, ohne dass sich die druckbeanspruchten Teile berühren. Turmentwürfe dieser Art gehören heute zur Ausbildung in Konstruktion und Tragwerkslehre. Sie vermitteln anschaulich räumliche Steifigkeit und das Prinzip von Minimalkonstruktionen. „Echte Tensegrities“ erreichen Bauhöhen bis zu 30 m und haben Eingang in die Museen für Moderne Kunst gefunden (vgl. Needle Tower II, 1969 von Kenneth Snelson; Abbildung 16). Kenneth Snelsonreklamiert die Urheberrechte an diesen Strukturen für sich und hatte mir geschrieben: „Buckminster-Fuller coined that imprecise word ‚tensegrity‘ after first seeing my small sculpture“. Er legt Wert auf die Feststellung, dass seine filigranen Strukturen als „Skulpturen“ bezeichnet werden und vermeidet dem Begriff „Tensegrity“.

Abbildung 16: Needle Tower II, von K. Snelson, 1969 Aluminium und Edelstahl, 30 x 6 x 6 m, Sammlung Rijksmuseum Kröller Müller, Otterlo, Niederlande

Heute sind die Überlegungen zur ablesbaren und formal überhöhten Gestalt von Zugspannung und Druckstab als Ausgangspunkt für die Gestalt vieler moderner, zeichenhafter Türme etabliert. Selten erreichen sie die konstruktive Klarheit und Wirkung des Skylon oder des Needle Towers vonKenneth Snelson. Dennoch, die Ablesbarkeit der Konstruktion und des ursächlichen Tragverhaltens bleibt bis heute wesentlicher Bestandteil von Entwürfen turmartiger Bauwerke, die nachvollziehbare Gestalt als Wesensprinzip erhalten.