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Turmartige Bauten der handwerklich-baukulturellen Tradition

Autoren:
Burkhard Pahl

Betrachten wir den Zeitraum ab dem Zerfall des römischen Reiches bis zu Beginn der Neuzeit um 1760, sind es zunächst sakrale Bauten, welche die Entwicklung turmartiger Bauwerke charakterisieren. Zum Verständnis ist die sich verändernde Auffassung im Kirchenbau die Stellung von Turm und Andachtsraum (s. a. weitere Entwicklung des Kirchenbaus in Italien) von Bedeutung. 

Während die frühen Bauten vom Typus der Basilika und einen frei stehenden Turm (vgl. Sant Apollinare in Classe, Ravenna mit später hinzugefügtem Glockenturm, 10. Jahrhundert) gekennzeichnet waren, wurde der Turm in der Romanik integrales und zeichenhaftes Element für die Bedeutung des Kirchenbaus und flankierte sowohl beidseitig den Chor als auch die Eingangsfront (vgl. romanischer Kaiserdom zu Speyer). Ein entscheidender Schritt wurde in der Gotik vollzogen durch die Hinwendung zur Schaufassade. Die Zwillingstürme der französischen Gotik lösten sich erst oberhalb einer stilbildenden Fensterrosette aus der Fassade und addierten sich zu nicht enden wollenden, steil nach oben gerichteten und konstruktiv aufgelösten Elementen. Die bedeutendsten Türme deutscher Gotik entstammen der Neuzeit (Köln 1842 – 80 mit 157 m Höhe, Ulm 1844 – 90 mit 161 m Höhe).

Mit der Renaissance entwickelten sich Kuppel und Zentralbau zu wesensbestimmenden Elementen für sakrale Räume. In Italien wurde der Turm, der Campanileals Glocken- und Uhrturm zum Symbol selbstbewusster Stadtstaaten. Die quadratischen Ziegeltürme besaßen eine außerordentliche Schlankheit und begründeten den Typus des Rathausturmes mit Uhr und Glocke. Die bedeutendsten sind der Campanile des Palazzo Communale der Stadt Siena von 1338 – 1348 mit 102 m Höhe und der Torrazzo von Cremona mit 115 m Höhe aus dem Jahr 1250, später mit einem achteckigen Aufbau erhöht. Er gilt als der höchste Ziegelturm der Welt. Weniger Glück hatten die Venezianer. Der 99 m hohe Campanile aus dem 10. Jahrhundert stürzte 1902 ein und wurde 1912 in gleicher Form, jedoch mit Aufzug neu errichtet. 

Von Bedeutung sind weiterhin die Geschlechtertürme, welche als wehrhafter Adelssitz errichtet wurden. In San Gimiano stehen heute noch 13 der ehemals 72 Türme. In Bologna ist der ‚Asinelli‘ mit 98 m und ca. 2,2 m Neigung erhalten. Der berühmte frei stehende Glockenturm des Domes von Pisa, in den Jahren 1174 – 1350 errichtet, erreicht lediglich eine Höhe von 55,20 m bei einer Neigung von ca. 4,30 m. Über die Gründungsproblematik und die mehrfach vorgenommenen Stabilisierungsmaßnahmen ist in der Literatur umfangreich berichtet worden [Hoff, 11]. Bemerkenswert ist, dass eine Korrektur der Neigung bereits in der Bauphase versucht wurde.

Historisch gesehen ist das Phänomen des Grundbruches den Baumeistern vermutlich unerklärlich gewesen [Otto, 12].

Die Bauten der handwerklich-baukulturellen Tradition waren gebunden an die Empirik der Bauhütte, das Wissen um Material und Bearbeitungstechnik. Die Kenntnisse und Fortschritte um Konstruktion, Form und Gestalt waren ebenfalls regional gebunden, wobei durch die inhaltliche Klammer der Kirche und das abweichende Wollen der Herrscher (siehe romanischer Kaiserdom) Dissonanzen in den jeweiligen Auffassungen bekannt waren und ausgetragen wurden [u. a. durch den Verzicht auf Türme, Gympel, 13]. Mit dem zunehmenden Außenhandel (insbesondere der italienischen Stadtstaaten) wuchs nicht nur deren Selbstbewusstsein im architektonischen Ausdruck, sondern auch die Kenntnis über arabische und asiatische Lebensweisen und Kulturen. 

Ebenso führte der Übergang von der byzantinischen, christlichen Kultur zum Islam zu Adaptionen (Hagia Sophia, Istanbul), aber auch zu eigenständigen Leistungen im Kuppelbau und in der Turmbaukunst (vlg. Große Moschee und Minarette für Sultan Selim II, Edirne, Türkei 1570 – 74 durch Sinan u. a.). Die fernöstliche Bautechnik muss als Parallelentwicklung verstanden werden, ebenfalls auf Grund von frühen Hochkulturen mit turmartigen Tempelbauten in Indien, dem heutigen Thailand, Burma und Ostasien. Der Formenkanon (Pagodenstil) diverser asiatischer Hochhäuser (Taipeh 101, Taipeh; Jin-Mao-Building, Shanghai; Petronas-Tower, Kuala Lumpur u. a.) muss auch aus diesem kulturellen Zusammenhang heraus verstanden werden.