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Umnutzung und Adaptive Reuse: Grundsätze der Praxis

Umnutzung und Adaptive Reuse: Grundsätze der Praxis

Autoren:
Heike Oevermann

New York: Highline im ehem. Meatpacking District. Touristenattraktion und Boom-Faktor Bildurheberrechte: Norbert Tempel

Umnutzung und Adaptive Reuse: Grundsätze der Praxis

Die Begriffe Umnutzung, Nachnutzung oder auch Neunutzung haben für die Praxis die gleiche Bedeutung: Es geht um eine neue Nutzung eines aufgelassenen Gebäudekomplexes, dass seine ursprüngliche industrielle Funktion, z. B. als Bergwerk, Maschinenhalle oder Lokdepot, verloren hat. Meist sind mit diesen Funktionsumwandlungen auch bauliche Eingriffe verbunden. Der Begriff der Umnutzung wird nicht nur auf Industriedenkmäler bezogen, sondern auch auf solche Anlagen, die nicht unter Schutz stehen.  Bei größeren Industriekomplexen, oft auch als Industrieareal bezeichnet,  wird für diese Funktionsumwandlung auch der Begriff Konversion genutzt. In der internationalen Diskussion spricht man von: adaptive reuse (engl.: anpassungsfähige Wiedernutzung). Im Gegensatz zur Umnutzung steht eine Nutzungskontinuität, wie sie z. B. bei Arbeiterwohnsiedlungen mit einer Kontinuität der Wohnfunktion bis heute oft gegeben ist. Der Begriff der Umnutzung bezieht sich auf sehr unterschiedliche Industriedenkmäler und Praxen im Umgang mit dem Industriedenkmal: die UNESCO Welterbestätten Völklinger Hütte im Saarland und Industriekomplex Zollverein im Ruhrgebiet, die Umnutzung zu Wohnzwecken und Dienstleistungen der Wollgarn- und Buntgarnfabrik in Leipzig, oder Umnutzung der AEG Kabelwerke in Berlin-Oberschöneweide zum Hochschulstandort, oder auch das Industrie- und Technikmuseum Wülfing-Museum im der ehemaligen Tuchfabrik Wülfing & Sohn in Radevormwald-Dahlerau,  um nur einige wenige der vielzähligen Beispiele in Deutschland zu nennen.

Gemeinsam ist allen Beispielen aus der Praxis ein Spannungsfeld im Umgang mit einem aufgelassenen Industriedenkmal: Umnutzung heißt immer Erhaltungsinteressen und Möglichkeiten neuer Nutzungen und Entwicklungen des Industriedenkmals miteinander abzuwägen.

Hochschule für Technik und Wirtschaft auf dem Gelände des ehemaligen AEG Kabelwerks Oberspree Berlin. Im Bild die ehemalige Fabrik für Fahrzeugteile und Verwaltung; Copyright Heike Oevermann

Die Umnutzung  von Industriedenkmälern beinhaltet immer Fragen der Erhaltung und zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten des Denkmals, auf die die Umnutzungen mehr oder weniger geeignete Antworten geben können. Es sind museale, touristische oder kulturelle Nutzungen möglich, die Umnutzung durch Kreativwirtschaft, Neue Industrien und andere gewerbliche Mieter oder Eigentümer, sowie Umnutzung mit anderen Funktionen, wie Wohnnutzungen, Bildungseinrichtungen und vieles mehr. Grundsätzlich gibt es hier keine Beschränkungen für die Art der neuen Nutzungen und die internationale Praxis zeigt vielfache Beispiele. Der englische Begriff des adaptive reuse macht deutlich, was dabei wichtig ist: Die Umnutzung sollte zu dem vorhandenen Bauwerk und seinen technischen Einrichtungen passen, sie sollte in Bezug auf das konkrete vorhandene Denkmal anpassungsfähig sein. Diese Anpassungsfähigkeit leisten oftmals museale, kulturelle oder kreativwirtschaftliche Nutzungen, wie z. B. die Umnutzung des Bergwerkes zum Centre Historique Minier du Nord-Pas de Calais in Lewarde, Frankreich, ein Museum und Dokumentations- bzw. Forschungszentrum, die Umnutzung einer ehemaligen Waffen- und Elektroproduktionsstätte zum Kunstdistrikt Danshanzi 798 in Beijing, China, oder die schrittweise Umnutzung einer Malzfabrik in Berlin-Schöneberg zum Standort für kreativwirtschaftliche Unternehmen.

Umnutzungen werden sinnvollerweise von dem spezifischen Industriedenkmal und seinem Standort aus entwickelt, denn was an einem Ort und für ein Denkmal funktioniert, muss nicht an einem anderen funktionieren. So unterscheiden sich Erhaltung und Entwicklungsmöglichkeiten von Industriedenkmälern im ländlichen Raum von denen in Ballungsgebieten, oder die von spezifischen Anlagen wie einem Bergwerk von Etagenfabriken, um nur zwei wichtige Aspekte anzusprechen.

Bei Umnutzungen werden unterschiedliche Interventionsgrade unterschieden. Die sogenannte minimale Intervention bedeutet  wenige Eingriffe in die architektonische und technische historische Substanz. Der Begriff der Architektur schließt hier auch Grünräume, Freiflächen und städtebauliche Aspekte ein. Bei einer Nutzungskontinuität, wie sie beim Arbeiterwohnungsbau, manchmal auch durch eine industrielle Weiternutzung durch andere Firmen oder Branchen gegeben ist, sind die baulichen Eingriffe in der Regel eher minimal. Bei Umnutzungen von Industriedenkmälern reicht die Bandbreite der baulichen Interventionen von diesen minimalen Eingriffen hin zu massiven Eingriffen, die auch Teilabrisse und Rekonstruktionen historischer Elemente beinhalten können. Häufig können nur museale Nutzungen, bei denen auch der Betrieb von Maschinen oder ähnlichem zumindest zu Vorführzwecken erhalten ist,  Architektur und Technik umfassend erhalten, eins der vielen Beispiele ist hier das Haus der Seidenindustrie in Krefeld, eine Weberei, die heute in Händen eines Fördervereins der interessierten Öffentlichkeit das Weben am Jacquardhandwebstuhl vorführt. Als ein Beispiel für minimale Eingriffe in die Architektur und umfassenden Verlust der technischen Anlagen kann u.v.a. der ehemalige Kugellagerhersteller SKF Gothenburg, Schweden, die heute als Standort für Gewerbe und Dienstleistungen fungiert. Häufige Praxis sind auch umfassendere Eingriffe an den Innenräumen und bei umfassender Erhaltung des Gesamtbaukörpers. Hier kann als Beispiel die Umnutzung  des Kraftwerkes Bankside zum Tate Modern Museum in London dienen. Schließlich gibt es Industriekomplexe, bei denen verschiedene Teilbereiche unterschiedlich behandelt werden. Meist handelt es sich um größere Industriekomplexe, in denen unterschiedliche historische Funktionen von Produktion, Forschung und Entwicklung, Lagerung, Verkehrsanlagen, Unternehmerwohnen und/ oder Arbeiterwohnen den Komplex geprägt haben. Sinnvollerweise wird bei den historisch bedeutsamen Teilen eher minimal eingegriffen, während architektonisch und/oder technisch weniger wichtige Teile, oftmals sind dies z. B.  Lagergebäude, oder stark verfallene Bereiche auch abgerissen werden. Ergänzende neue Bauten, Zugänge oder gestaltete Freiflächen können dann einen solchen Komplex entsprechend den neuen Funktions- und Nutzungsanforderungen erhalten und weiterentwickeln. Ein Beispiel unter vielen ist hier die ehemalige Keramikfabrik Zsolnay in Pécs, Ungarn. Das Projekt, in diesem Maßstab eher als Konversion, denn als Umnutzung zu bezeichnen,  gehörte zum Programm Europäische Kulturhauptstadt 2010 in Pécs. Eine Sonderform bilden Industriekomplexe, die erhalten und entwickelt werden, ohne dass es sich um ein Industriedenkmal im rechtlichen Sinne handelt. Ein Beispiel ist hier der Sulzerkomplex Stadtmitte in Winterthur, Schweiz. Anstelle einer rechtlichen Denkmalunterschutzstellung wurde in langjährigen Verhandlungen unterschiedlicher Beteiligter (Akteure ) ein öffentlich-rechtlicher Schutzvertrag formuliert, der einige Objekte und Bauten als unbedingt zu erhalten definiert, andere Objekte und Bauten können auch abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Dabei sichern zudem Testplanungsverfahren, Wettbewerbe, Genehmigungsverfahren und eine Gestaltungssatzung für die Außenräume den Erhalt des städtebaulichen Grundrisses des Industriekomplexes und seiner charakteristischen Gestalt.

Die Praxis zeigt, dass viele unterschiedliche Ansätze und konkrete Maßnahmen Anwendung finden. Es liegt auf der Hand, dass der Denkmalschutz auch bei der Umnutzung eines Industriedenkmals den Grundsatz anwendet: So wenige Eingriffe wie möglich und so viele Eingriffe (zur Sicherung, Reparatur, Zugänglichmachung etc.) wie nötig, um den Erhalt zu sichern. Ergänzt wird dieser Grundsatz von dem Verständnis, dass auch bei Industriedenkmälern eine Nutzung den Erhalt langfristig sichert.

Tate Modern in der ehemaligen Bankside Power Station, London, UK; Copyright Heike Oevermann

Im 21. Jahrhundert spielen zunehmend Anliegen der Regional-, Stadt-, und Standortentwicklung eine bestimmende Rolle bei Umnutzungen von Industriedenkmälern, im folgenden kurz gefasst mit dem Begriff der Stadtentwicklung. Hier reicht die Bandbreite von der Entwicklung der Region, wie sie bei der IBA Emscher Park im nördlichen Ruhrgebiet vorangetrieben wurde, über große städtische Brachenentwicklungen, wie beispielsweise im ehemaligen Hafen von Liverpool, England, derzeit gefährdetes UNESCO Welterbe, oder bei Fragen wie die kleineren ehemalige Textilproduktionsstandorte, wie z. B. Plauen, hier die Hempelsche Fabrik, ihr Industrierebe als Teil von Standortentwicklung nutzen könnten. Damit ist neben dem Denkmalschutz und der Architekturproduktion auch die Stadtentwicklung eine wichtige Perspektive der planerischen Praxis bei der Umnutzung von Industriedenkmälern. In dieser Konstellation der drei o. g. Perspektiven sind in der Forschung drei Erhaltungskonzepte identifiziert worden, die unterschiedliche planerische Praktiken im Umgang mit dem Industriedenkmal nach sich ziehen. Unterschieden wird (1) die Erhaltung des Denkmals als historisches Zeugnis, (2) die Erhaltung des Denkmals als Ressource für Stadtentwicklungsprozesse, und (3) die Erhaltung des Denkmals als besonderer Ort. Im Abschnitt Industriedenkmal und Stadtentwicklung wird dieses Thema ausführlicher behandelt. Darüber hinaus sind Industriedenkmäler in dem weiten Begriff des Industrial Heritage (übersetzt: Industrieerbe) relevant. Die internationale Diskussion und Praxis im Umgang mit dem industrial heritage schließt das Thema Umnutzungen und adaptive reuse mit ein, erweitert es aber auch hin zu Fragen nach den politischen,  kulturellen und sozialen Prozessen, die mit Umnutzungen verbunden sind.  Hier reicht die Bandbreite der Themen von Aneignung und (formellen) Beteiligungsprozessen, von Erinnerungspolitiken und offiziellen Bedeutungssetzungen, von sozialen Inklusionen oder Exklusionen. Ein Beispiel für die sinnvolle Beteiligung von Bürgerinitiativen ist die Umnutzung der Industriedenkmäler in Berlin Oberschöneweide, u.a. die Umnutzung der AEG Kabelwerke zum Hochschulstandort. Auch ökonomische Themen, insbesondere Verdrängungsprozesse durch Gentrifizierung werden thematisiert, z. B. in Bezug auf die Umnutzung der ehemaligen Elektrokleingerätefabrik Ganz zu einem Stadtteilpark und Museum und Eventstandort mit dem Namen Millénaris,  in Budapest, Ungarn.  Diese Themen werden in der Forschung oftmals interdisziplinär behandelt und knüpfen eng an die Stadtforschung und Raumforschung an.

Hier soll der Hinweis genügen, dass Diskussionen aus diesem erweiterten Feld des industrial heritage, indem politische, kulturelle, ökonomische und soziale Aspekte der Veränderungsprozesse thematisiert werden, in der Praxis der Umnutzung von Industriedenkmälern durchaus relevant sein können.

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Ausgewählte weiterführende Literatur zum Thema:

Douet, J. (ed.) (2012). Industrial heritage re-tooled. The TICCIH guide to industrial heritage conservation. Lancaster: Carnegie Publishing Ltd.

Oevermann, H. & Mieg, H.A. (2015). Transformation of industrial heritage sites. Clash of Discourses. London, New York: Routledge