Auf der Suche nach Lösungsansätzen für komplexere Fragestellungen, wie die Erhaltungsfragen von stillgelegten, großflächigen Industrieanlagen, bietet sich eine Studie an, welche vor Jahren von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) gefördert wurde [Dörner, Dietrich: DO 200/4 „Systemdenken“, federführend am Lehrstuhl Psychologie II, Universität Bamberg, 1981].

An einem fiktiven Ort „Lohausen“ wurden Motivation, Verhalten einzelner Akteure sowie Problemlösungsansätze an Fallbeispielen untersucht.

Die interessante Frage ist, ob sich die entscheidungstheoretischen bzw. empirisch erfassten Ansätze auf komplexere Fragestellungen des Erhaltens unseres industriell-kulturellen Erbes übertragen lassen.

Zunächst müssen wir im Sinne der o.g. Autoren verstehen, dass wir uns bei komplexen Fragestellungen in einem für uns zunächst intransparenten Bereich [ebenda, S.19] bewegen. Im schlimmsten Fall treffen wir Entscheidungen auf Basis unzureichender Informationen, Datenlagen oder wir begeben uns in Abhängigkeiten (z.B. Budgetlimits, bestehende Akteurs- oder Organisationsstrukturen), welche zielführende Lösungsansätze von vornherein beeinflussen oder fehlleiten können.

Unsere Entscheidungen hängen nicht nur von der Akteursstruktur (Denkmalpfleger, Fördermittelgeber, etc.) und dem abzugrenzenden Realitätsbereich (zu betrachtendes Industriedenkmal und seine Bedeutung in kultureller technologischer und physischer Sicht) ab, sondern auch von äußeren Aspekten, wie allgemeine Wirtschaftslage, demographische und technologische Entwicklung, Förderkulissen, Konversions- und Umweltfragen, der Standort- oder Regionalentwicklung, usw.

Es gilt also eine Vielzahl von Zielkriterien abzuwägen. Diese „polytelische Unternehmung“ [ebenda, S.21] beinhaltet teils sogar ein kontradiktorisches Verhältnis von Teilzielen, was z.B. zu Verlusten von Teilen des industriell-kulturellen Erbes führen kann, um die wirtschaftlich darstellbare Gesamt-maßnahme zu retten.

Ein weiteres Problem ist die Tendenz, Missstände im Sinne eines „linearen Denkens“ [Ursache-Wirkungs-Denken, Dörner S.23] lösen zu wollen und damit möglicherweise größere Missstände herbeizuführen, z.B. durch Abriss einsturzgefährdeter, aber sinnstiftender Elemente. Die Überbewertung aktueller Missstände und die rein menschliche Motivation zur singulären Beseitigung führt dann zur Kettenbildung ungelöster Probleme, statt zu vernetzter, strategischer und langfristiger Zielerfüllung (vgl. das politische Handeln in der Coronakrise 2020).

Dörner spricht von der „Unfähigkeit mit vernetzter Komplexität“ vernünftig umzugehen [ebenda, S. 24].

Ein Akteur, welcher im industriellen-kulturellen Kontext verantwortungsvoll handeln will, sollte verschiedene Variablen definieren, betrachten und diese in einer „Zielliste“ ´[ebenda] zusammenführen. Die Prozesshaftigkeit von Planung (vgl. ISO 21500) bedeutet darüber hinaus, dass Ziele im Laufe eines Handlungsprozesses nicht konstant [ebenda, S.33], sondern veränderbar sind, dies auch in ihrer Wichtung.

Bedeutend ist, dass der Akteur erkennt, welche Variablen für ihn veränderbar sind und er seine Handlungsmöglichkeiten aktiv nutzt und externe Information (Informationsanreicherung durch Analysen, Maßnahmen, Erkenntnisse) in den Handlungsprozess einfließen lässt, einschließlich der Beobachtung erzielter Effekte.

Dies bedeutet, dass die 1:1 Umsetzung eines Planes, welcher auf rudimentären Erkenntnissen, z.B. auf einer sogenannten Phase 0 beruht, zu Friktionen hinsichtlich Terminen, Kosten oder Qualität führen muss.

These: Die Prozesshaftigkeit von Planung mit kontinuierlicher Zielkorrektur (Monitoring) führt zu belastbaren Ergebnissen. Die Frage der Wiederherstellung der Notre Dame in Paris ist ein gutes Beispiel hierfür. Die Zielvorgabe (in 5 Jahren wiederhergestellt) durch Präsident Macron wird sich kontradiktorisch an der Anamnese und den daraus abzuleitenden Handlungen und Sicherheitsmaßnahmen messen lassen müssen, wenn man den physisch messbaren Denkmalwert als Zielvorgabe beibehält.

Dörner benennt zur Zielfindung unbestimmter und komplexer Fragestellungen fünf spezifische Anforderungen [ebenda, S.37]:

  1. Zielpräzisierung
  2. Vermehrung des strukturellen Wissens
  3. Zielbalancierung
  4. Schwerpunktbildung
  5. Hintergrundkontrolle

Die Definition globaler Ziele (z.B. Erhalt eines Hüttenwerkes) ist untauglich für die Umsetzung und bedarf somit der Präzisierung, z.B.: Erhalt und Visualisierung der wesentlichen Prozesse des ehemaligen Hüttenwerkes. Als weiteres Teilziel wäre denkbar: Erhalt der physischen Wirkung der Anlage (Silhouette, Dominanz) auf den Betrachter. Mark Watson, Sprecher der TICCIH-Textilgruppe spricht in diesem Zusammenhang von „Giant“ als Wesensmerkmal. Aus der Betrachtung von Teilzielen ergeben sich konkretere Variablen, welche sich eingrenzen und balancieren lassen (vgl. Anforderung 3), z.B.: Wie viel an Substanz kann entfernt werden ohne

  1. den Wirkungszusammenhang zu verlieren,
  2. das generelle Erscheinungsbild, die Wirkung der Gesamtanlage zu zerstören?

Zur Frage, welche Elemente des industriellen-kulturellen Kontextes obsolet sein könnten, ist eine Anreicherung des strukturellen Wissens (Anforderung 2) erforderlich. Dies bedeutet, nebst bekannten Untersuchungsmethoden, Literatur und Archivarbeit, die Bildung von Annahmen über mögliche Analogien, welche von ihrer konkreten Bindung abstrahiert und auf das Fallbeispiel übertragen werden können. Hinsichtlich des Realisierungs-grades reicht die Information, welche zur Entscheidungsreife notwendig ist, z.B.: Existieren Erfahrung einer sachgerechten Beschichtung, um ein Objekt für 15 Jahre in seinem Bestand zu sichern?

Die Anforderung 3 „Zielbalancierung“ ist vom Abwägen teils kontradiktorischer Teilziele geprägt. Hier hilft eine explorative Szenarien-bildung, d.h. Darlegung von Szenarien mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung von Teilzielen und deren Bewertung hinsichtlich denkmalpflegerischer Qualität (z.B. entlang der Kriterien der UNESCO zur Beurteilung von Welterbestätten), zeitlicher Umsetzung und monetärem Aufwand.

Dörner versteht unter der Anforderung 4, der Schwerpunktbildung, nicht das alleinige Hervorheben spezifischer Elemente, sondern, wenn die verfügbare Zeit oder Informationslage bei notwendiger Entscheidungs-findung [ebenda, S.45] nicht ausreicht, die Betrachtung der Eigenschaften der Ziele nach Wichtigkeit und Dringlichkeit.
Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu der eingangs beschriebenen Handlungsweise nach Notwendigkeit des Handelns, nach linearem Denken im Sinne von Beseitigung unmittelbarer Missstände (vgl. Notgrabungen von Archäologen im urbanen Kontext, statt systematischer Aufarbeitung historischer Zusammenhänge). So ist die Schwerpunktbildung nach Dörner auch nicht zu verstehen. Entscheidend ist eine „Zielzentralität“ [ebenda, S.46] von Einzelmaßnahmen oder Teilzielen, d.h. je größer der Einfluss von Teilzielen auf andere Teilziele ist, desto bedeutender, unverzichtbarer sind diese.

Abbildung 1: Stark vereinfachte Matrix zur Gewichtung nach Teilzielen bzw. Dringlichkeit, IGB, Leipzig (vgl. Dörner: Tabelle 1.1, ebenda S.46)


Ist z.B. die Wiederherstellung einer Förderstrecke unverzichtbar für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs (Teilziel x), erforderlich für die Besucherführung (Teilziel y) und Erhalt der Einzigartigkeit (Teilziel z), muss dies mit Dringlichkeit erreicht werden.

Zu Anforderung 5 „Hintergrundkontrolle“: Besteht jedoch das Risiko des Einsturzes eines wichtigen, noch nicht ausreichend evaluierten Elements, ist die Sicherung möglicherweise vorzuziehen zur Absicherung des Gesamtziels. Beobachten, kontruktiv-kritische Begleitung und flexibles Reagieren ist also gefordert.

Dörner spricht von Scheuklappendenken [ebenda, S.48] durch den gewählten, getroffenen Realitätsausschnitt, wodurch bedrohliche Entwicklungen möglicherweise zu spät erkannt werden und fordert zugleich die Anforderung 5 nicht final, sondern begleitend, meines Erachtens im Sinne eines Monitorings anzulegen, als Hintergrundkontrolle mit der Anreicherung von weiteren Informationen und Wissen.

Literatur:

Dörner, Dietrich: Lohhausen: vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität; DFG-Projekt DO 200/4 „Systemdenken“, Lehrstuhl Psychologie II der Universität Bamberg 1981