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Überprüfung der Standsicherheit von Bauwerken – Vorgehensweise

Überprüfung der Standsicherheit von Bauwerken – Vorgehensweise

Autoren:
Norbert Tempel

Als Reaktion auf die o.a. „Hinweise“ der Bauministerkonferenz hat der VDI im Februar 2010 die VDI-Richtlinie 6200 „Standsicherheit von Bauwerken – Regelmäßige Überprüfung“ herausgegeben1 und definiert den Anwendungsbereich auf Bauwerke aller Art, abgesehen von Verkehrsbauwerken, die zum Regelungsbereich der DIN 1076 und der DS 803 der Deutschen Bahn AG gehören. Im Zuge der Überprüfung sollen auch Aspekte der Dauerhaftigkeit – wie schleichend voranschreitende Zustandsverschlechterungen durch Materialermüdung oder Umwelteinflüsse betrachtet werden. Abgesehen von zusätzlichen Überprüfungen durch den Verfügungsberechtigten selbst sind die Überprüfungen durch ausgewiesene Fachleute vorzunehmen, die den hohen fachlichen Anforderungen gerecht werden und über einschlägige Erfahrungen verfügen (s. Kap. „Regelmäßige Überprüfungen“).

Die wesentlichen Elemente einer Überprüfung der Standsicherheit von Bauwerken sind:

Bestands-Dokumentation im Bauwerks- / Objektbuch

An dieser Stelle wird die Bestandsdokumentation nur in der für die Standsicherheitsüberprüfung erforderlichen Mindestform behandelt, die ausführliche Dokumentation im denkmalpflegerischen Sinne wird im Kapitel Erkunden, Dokumentieren, Planen dargestellt.
Der Empfehlung der o.a. Richtlinien, Bauwerks-/Objektbücher anzulegen, schließen wir uns ausdrücklich an: „Eine wesentliche Grundlage für die Überprüfung ist das Vorhalten der wichtigsten Daten und Konstruktionszeichnungen der baulichen Anlage. Hierfür hat sich das Anlegen und Fortführen einer Dokumentation, zum Beispiel eines Bauwerks-/Objektbuches bewährt, in das sich alle tragwerksrelevanten Änderungen und Instandhaltungen sowie alle Überprüfungen eintragen lassen“. (ARGEBAU Hinweise Pkt. 3). Das DBV2-Merkblatt „Bauwerksbuch“ (Fassung 2007) ist als Hilfestellung für das Anlegen von Bauwerksbüchern gedacht.

Folgende Punkte sollten im Bauwerksbuch dokumentiert werden:

  • Übersichtszeichnungen (Grundrisse, Ansichten, Schnitte)
  • Ausführungspläne Tragwerk und statische Positionspläne, samt Fortschreibung bis zum heutigen Zustand sowie Konstruktionsdetails
  • statische Berechnung samt Baubeschreibung sowie Angaben zu Baugrund, Baustoffen, angewandten Vorschriften und Lastannahmen
  • Genehmigungsunterlagen der Bauaufsicht
  • Bauliche Veränderungen (mit Zeitpunkt)
  • Bisherige Überprüfungen der Standsicherheit
  • Wartungs- und Prüfplan.
  • Verweise auf Publikationen.

Bei vorhandenen älteren „Überprüfung der Standsicherheit von Bauwerken“ müssen die für die Beurteilung erforderlichen Unterlagen bei der Erstüberprüfung gesichtet oder neu erstellt werden. Dabei ist die tragende Bausubstanz geometrisch und qualitativ zu erfassen, die zum Zeitpunkt der Errichtung gültigen Normen und tatsächlichen Materialgüten in die Beurteilung mit einzubeziehen. Typisch bei älteren Industriebauten sind Setzrisse, das weitere Setzungsverhalten des Bauwerks ist daher zu überwachen, ggf. sind geeignete Messpunkte anzuordnen und einzumessen bzw. Rissmonitore anzubringen.

Bauwerkstypen / -konstruktionen

Bauwerke lassen sich hinsichtlich der Folgen im Schadensfall und ihrer statisch-konstruktiven Durchbildung einteilen. Die möglichen Schadensfolgen der Bauwerke werden in Anlehnung an die Hinweise der ARGEBAU und die DIN EN 1990:2002-10, Anhang B in drei Klassen eingeteilt. Die meisten Industriebauten werden wohl der mittleren Kategorie „CC 2“ (CC = Consequences Classes) zugeordnet werden können. Darüber hinaus kann eine „Robustheitsklasse“ formuliert werden, die aus der statisch-konstruktiven Durchbildung der Tragstruktur ableitbar ist und ein wesentliches Kriterium für die Festlegung der erforderlichen Überprüfungsmethoden und Zeitintervalle darstellt.

Regelmäßige Überprüfungen

Es werden verschiedene Stufen der Überprüfung unterschieden (Angabe der Zeitintervalle stellen eine Empfehlung gem. CC2 dar, bei stark geschädigten Bauwerken sind diese Fristen zu verkürzen):

  • Begehung durch den Eigentümer / Verfügungsberechtigten alle 2 bis 3 Jahre: Besichtigung des Bauwerks auf offenkundige Mängel oder Schäden. Am Tragwerk sind dies vor allem Verformungen, Schiefstellungen, Risse, Durchfeuchtungen, Ausblühungen, Korrosion oder Schädlingsbefall bei Holz. Dabei ist auch auf weitere Einflüsse – wie eindringende Feuchte, schadhafte Entwässerungen usw. – zu achten, die künftig die Standsicherheit beeinträchtigen könnten3.
  • Inspektion durch eine fachkundige Person alle 4 bis 5 Jahre: visuelle Überprüfung des Tragwerks ohne Verwendung technischer Prüfhilfsmittel4.
  • Eingehende Überprüfung durch eine besonders fachkundige Person alle 12 bis 15 Jahre. Wir empfehlen dies als Erst-Überprüfung möglichst schnell nach Übernahme der Industrieanlage! In dieser eingehenden Überprüfung werden alle maßgeblichen Tragwerksteile, auch wenn sie schwer zugänglich sind, handnah5(!) im Sinn einer Schwachstellensuche auf Schädigungen hin überprüft. Dabei können stichprobenartige Materialentnahmen mit Feststellung der Materialeigenschaften erforderlich werden.

Außerplanmäßige Überprüfungen sollten nach außergewöhnlichen Einwirkungen wie Bergsenkungen, hoher Schnee, extreme Sturmereignisse o.ä. vorgenommen werden oder sobald es Anzeichen für neu auftretende Schäden am Bauwerk gibt (z.B. neue Risse).

Alle Überprüfungen sind im Bauwerksbuch zu dokumentieren. Da es bei der Überprüfung der Standsicherheit einer Tragwerkskonstruktion vor allem auf das Erkennen und Beurteilen von Schädigungen ankommt, muß der Überprüfende über gute statische, konstruktive, materialtechnische und bauphysikalische Kenntnisse und Erfahrungen verfügen. Als fachkundige Personen können Architekten und Bauingenieure gelten, die mindestens fünf Jahre einschlägig tätig waren und sich mit vergleichbaren Konstruktionen des Industriebaus auskennen. Als besonders fachkundige Personen zur Ausführung eingehender Überprüfungen gelten Bauingenieure mit mind. zehnjähriger einschlägiger Tätigkeit und Prüfingenieure/Prüfsachverständige für Standsicherheit6.

Baustoffe

Baustoffe unterliegen Alterungsprozessen, die sowohl vom Werkstoff selber wie auch von äußeren Lasteinwirkungen und umweltbedingten Einwirkungen abhängen. Die wichtigsten Kenngrößen eines Baustoffes sind Festigkeit, Steifigkeit, Duktilität und sein zeit- und belastungsabhängiges Verhalten. Eine Verminderung der Festigkeit ist meist Folge von Gefügeveränderungen, verknüpft mit einer Verminderung des Elastizitätsmoduls, resultierend in Verformungen. Die Versprödung eines Werkstoffgefüges führt zur Abnahme der Bruchdehnung. Vor einem Versagen treten dann kaum Verformungen auf, die dieses ankündigen7.
Die Veränderung von Baustoffeigenschaften können teilweise schon aus dem äußeren Erscheinungsbild abgeleitet werden (Abwitterung, Korrosionsprodukte, Risse, Löcher usw.). Zur quantitativen Erfassung können – je nach Material – unterschiedliche zerstörende oder zerstörungsfreie Prüfverfahren8 angewandt werden, die in der Regel nur von Fachleuten beherrscht werden. Das Bauwerk sollte durch Probenahmen so wenig wie möglich beeinträchtigt werden, ggf. ist die Denkmalpflege zu beteiligen.

Einwirkungen auf das Bauwerk

Ein Industriebauwerk kann – neben seinen Eigen- und Nutzlasten – ganz unterschiedlichen Einwirkungen ausgesetzt sein:

  • Lasten von Maschinen, Anlagen, Bunkern und Silos,
  • Erd- und Wasserdruck,
  • Wind-, Schnee- und Eislasten,
  • Temperatur- und Feuchteänderungen, Frost,
  • Schwinden und Quellen von Baustoffen,
  • Zwang aus Setzungen und Verformungen,
  • Beanspruchungen infolge Bauablauf, Vorspannungen usw.,
  • Sonstige mechanische und chemische Beanspruchungen,
  • Außergewöhnliche Einwirkungen, z.B. durch Havarien, Brand, Erdbeben usw.

Bei stillgelegten Industrieanlagen sind die Lasten eher geringer als in der Betriebszeit, auf Treppen und Bühnen durch Besucherbetrieb aber ggf. höher als während der industriellen Nutzung. Sind zudem Materialschwächungen festzustellen, sind die Einwirkungen durch entsprechende Nutzungsbeschränkungen (Einschränkung der Verkehrslast) zu reduzieren.

Folgerungen aus der Feststellung mangelnder Standsicherheit

Werden Schädigungen der Tragkonstruktion bei Begehung oder Inspektion festgestellt, sollen kurzfristig Experten9 hinzugezogen und eine zügige Instandsetzung veranlasst werden. Besteht akute Gefahr, ist sofort abzusperren. Sollte eine Instandsetzung nicht sofort möglich sein, sind temporäre Sicherungen sinnvoll (siehe Kap. „Pflichtprogramm: Was muss auf jeden Fall getan werden?“). Ein auf erkannte Schwachstellen gerichtetes Monitoring samt Zeitraster für regelmäßige Überprüfung ist zu definieren.

Hinweise für die Planung und Ausführung

Maßnahmen, die über die reine Gefahrenabwehr und präventive Konservierung im engeren Sinn hinausgehen, sind auf Basis der o.a. Feststellungen zur aktuellen Standsicherheit und Gebrauchstauglichkeit zu planen. Allerdings fließen – insbesondere beim Denkmal – eine ganze Reihe weiterer Überprüfungen und Untersuchungen mit ein, die im folgenden Kapitel „Erkunden, Dokumentieren, Planen“ näher dargestellt werden. Dort werden auch weitere Anforderungen an die Objekt- und Tragwerks-Planung usw. formuliert10.


1. Der gesamte Inhalt der beim Beuth-Verlag, Berlin erhältlichen VDI-Richtlinie 6200 wurde vollständig in deutsch und englisch publiziert.
2. DBV Deutscher Beton- und Bautechnik-Verein e.V.
3. VDI-Richtlinie 6200 enthält als Anhang C eine Checkliste samt Formular für die Dokumentation der Begehung durch den Eigentümer / Verfügungsberechtigten
4. VDI-Richtlinie 6200 enthält als Anhang D eine umfangreiche Checkliste samt Formular für die Dokumentation der Inspektion durch eine fachkundige Person
5. Die Forderung der handnahen Überprüfung hat im Industriebereich besondere Relevanz: häufig sind Teile der Konstruktion durch starke Auflagerungen oder Rohr- und Kabeltrassen verdeckt. Die Ausführung bei schwer erreichbaren Teilen der Konstruktion erfordert ggf. die Stellung von Gerüsten oder den Einsatz von Hubsteigern. Selbst dann bleiben häufig noch Bereiche, die nur durch Klettern (professionelle Industriekletterer) erreichbar sind. Die schwerwiegende Problematik der „repräsentativen Untersuchung“ kann hier nur angedeutet werden: eine 100 % Untersuchung schafft Sicherheit, bedeutet aber einen immensen finanziellen Aufwand! Nur sehr erfahrene Experten finden hier einen „goldenen Mittelweg“.
6. Die Ingenieurkammern einiger Bundesländer führen Listen von sachkundigen und besonders sachkundigen Personen.
7. Materialeigenschaften können sich dramatisch verändern. Bei Stahl sollte z.B. nicht nur die Schweißbarkeit im Hinblick auf künftige Reparaturen im Materiallabor überprüft werden, sondern auch die sonstigen Werkstoffeigenschaften. Bei niedriglegierten Baustählen, wie sie z.B. in den 1930er Jahren verwandt wurden, besteht u.U. Sprödbruchgefahr.
8. S.a. VDI-R 6200, Kap. 7 und „Toolbox“ Prüfverfahren in Kap.5.x
9. Für statische Probleme sind ggf. adäquate Nachweismöglichkeiten auch jenseits der aktuellen DIN-Normen zu finden.
10. S.a. VDI-R 6200, Kap. 13