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Betrachtung hinsichtlich Form, Materialität und Funktion

Betrachtung hinsichtlich Form, Materialität und Funktion

Autoren:
Burkhard Pahl

1. Bauformen und Gestalt

Die Frage nach möglichen Bauformen und Gestalt neuer turmartiger Bauwerke ist zunächst losgelöst von der Funktion zu sehen, wie das Beispiel Šuchovgezeigt hat. Entscheidender für die charakteristische Ausprägung spezifischer Bauformen ist bei vertikal orientierten Bauwerken die Schlankheit. Bei zunehmender Schlankheit und der Annäherung an die Leistungsgrenze werden wesenstypische Prinzipien sichtbar. Der Lastabtrag wird somit formal dominant für die Gestalt. Dies wird insbesondere deutlich bei Turmbauten ab dem 19. Jahrhundert, wo zunehmend Berechnungsmethoden und Erkenntnisse im Tragverhalten erlauben, Form und Materialeinsatz effizient einzusetzen und das Prinzip der Minimalkonstruktion aus ökonomischem Interesse zur Maxime zu erheben.

Die Fähigkeit zur Vorspannung verunklart das tradierte Bild des sich nach oben verjüngenden Turmes – ähnlich wie der vorgespannte und in den Außenabmessungen gleichförmige Hohlkastenquerschnitt im Brückenbau dem Betrachter kein sinnfälliges Bild für den Lastabtrag vermittelt.

So ist der moderne Turm hinsichtlich Bauform zunehmend eine akrobatische Leistung (vgl. Montjuic-Turm von S. Calatrava, space needle von K. Snelson), welche sich der Schwerkraft zu entledigen scheint. Die moderne Bauform ist also mehr skulpturales Prinzip und weniger Abbild des Tragverhaltens oder Abbild materialspezifischer Zwänge.

Gehen wir nochmals zurück vor den Beginn der Neuzeit, vor unsere Fähigkeit im Sinne von Vorweisen ein Tragverhalten exakt zu berechnen und die resultierende Form exakt zu bestimmen.

Tradierte Bauweisen basierten auf Empirie und einfachen Proportionalitätsregeln. Frei Ottoist vor Jahren der Frage nachgegangen, welche Erkenntnisse den Baumeistern bei der Errichtung von Türmen zur Verfügung standen. Es muss nach F. Otto“bekannt gewesen sein, dass das Verhältnis der Höhe zu Aufstandsbreite und die Lage des Schwerpunktes … im Bereich der damals gängigen Bauwerke mit Höhen von 2 – 140 m weitgehend sogar unabhängig von der absoluten Höhe waren“ (Abbildung 17) [Otto, 12].

Abbildung 17: Verhältnis von Aufstandsbreite zu Höhe und Lage des Schwerpunktes nach Frei Otto [12]

Weiter Frei Otto: „Das Wissen um die machbare Schlankheit hat viele Konstruktionen und damit die tragende Baukunst grundlegend beeinflusst.“ [12, ebenda]

Anhand einfacher Skizzen mit der Darstellung möglicher Schwerpunkte in Bezug auf die Bauform ist einleuchtend darstellbar, dass das bautechnische Ziel in einer möglichst tiefen Lage des Schwerpunktes anzusiedeln war. Der multiple Einsturz von Turmbauwerken hatte den Baumeistern diese Erkenntnis notfalls empirisch nahe gelegt.

Angesichts der üblichen, vom Mauerwerk und seiner Schwäche (Mörtelfuge) geprägten Querschnitte müssen die extrem schlanken Minarette SinansZeitgenossen umso mehr als Sensation gegolten haben.

Bauwerke wie der Stuttgarter Fernsehturm stehen in der Tradition einer bildhaft erklärbaren Formensprache, welche sich sowohl über Analogien (Baum) nach den Prinzipien der Bionik als auch über das mathematische Modell der äußeren Belastung (Wind) und der inneren Belastung (Gewicht) formal erklären lassen. Diese bildhafte Herangehensweise [1, 2] folgt der inneren Logik einer Tragstruktur und führt hinsichtlich der visuellen Erklärbarkeit der statischen Wirkungsweise zu befriedigenden Bauformen.

In einem zweiten Schritt kommt es darauf an, die Materialität, die Oberfläche, die Gestaltung von Knotenpunkten, jegliche Einbauten und Installationen dem plastisch erfahrbaren Bild der Strukturform zuzuordnen. Dies ist heute ein aktiver Prozess – nicht mehr gebunden an die Einschränkungen einer handwerklich-künstlerischen Tradition. Der Entwerfer steht heute vor einem Auswahlproblem. Entwerfen meint auch weg-werfen, das sich Lösen von überflüssigen Applikationen, formalen Überlagerungen oder differierenden Ausdrucksformen. Dies ist ein Prozess. Er bedarf der Intuition, Erfahrung und möglichst der Mitwirkung von in der Wahrnehmung von Gestalt erfahrenen Planern. So werden wesentliche Fragen gestellt: Führt eine Vorspannung, der Einsatz von Hochleistungsbetonen zu einer schlankeren Gestalt im Gesamterscheinungsbild? Wie verhalten sich die Teile zum Ganzen? Sprechen sie eine formal einheitliche Sprache? Ist eine Textur, Oberflächenprofilierung erforderlich und überhaupt lesbar aus größerer Entfernung?

Schon Paul Bonatz(Architekt des Stuttgarter Hauptbahnhofs und der Lahntalbrücke bei Limburg) wusste, dass Profilierungen < 8 cm aus größerer Entfernung nicht mehr lesbar sind. Aufgetragene Längs- und Querstreifen (vgl. E. Neufert, Bauentwurfslehre) nützen nichts mehr, wenn die Form den Ansprüchen der ‚haute couture‘ nicht mehr genügt (s. Bemalung von Kraftwerken). Gestalt ist keine nachträgliche Applikation, sondern ursächliches Entwurfsprinzip, die Suche nach struktureller Qualität und ganzheitlicher Ausdruckskraft. So ist es eine törichte Sprachverwirrung, wenn stromlinienförmige Windgeneratoren auf quadratische Stahlgittermasten aufgesetzt werden (Abbildung 18). Der Dualismus im Erscheinungsbild vermittelt die Kombination von der Eleganz eines englischen Reitpferdes (Generatorkopf) mit der strukturellen Grobheit eines Heuwagens (Schaft) aus dem 19. Jahrhundert.

Abbildung 18: Windkraftanlage Kreis Siegen, Westerwald

Abbildung 19: Fallturm der Universität Bremen

Eine zweite Herangehensweise ist von der Form und der Geometrie bestimmt. Das Ergebnis sind klar ablesbare Körper, welche in der Regel auf den geometrischen Grundformen Quadrat, Kreis und Dreieck und ihrer räumlichen Entsprechung beruhen. Sie verlangen eine geometrisch klare Beziehung aller Teile.

Im Ergebnis wird dies im Aufriss nicht die statisch sinnvolle Form sein, aber sie kann aus funktionaler Sicht die Dinge vereinfachen. So ist der Fallturm der Universität Bremen mit einer Höhe von 145,80 m heute kein statisches Problem mehr. Seine Form folgt der reinen Geometrisierung eines Zylinders, was die Anordnung im Inneren (Versuche zu Gravitation, freier Fall von Kapseln, Anordnung von Messeinrichtungen) sicherlich erleichtert (Abbildung 19).

Die formale Gestalt geometrischer Körper wird dann zur Herausforderung, wenn turmartige Bauwerke an ihrer Leistungsgrenze operieren.

Summarisch ergibt sich folgende sinnvolle Logik in der Gestaltung von Türmen: geometrisch determinierte Ausgangslage im Grundriss und statisch determinierte Form im Aufriss (Abbildung 20). Die Fundamente sind Bestandteil dieser Herangehensweise. Entweder sind die Anforderungen an das Fundament in den sichtbaren Bereich verlagert (vgl. Fernsehturm Moskau, Basel u. a.) oder sie sind dem Betrachter entzogen, was zu überraschenden, teils kopflastigen Wirkungen führen kann.

Ein weiterer Aspekt ist von Bedeutung: Šuchovhatte Tragwerk und Funktion isoliert für sich betrachtet und optimiert. Zwar ist ihm ein sinnvoller Übergang von dünnwandigem Behälter (Funktion) zu Hyperboloid (Tragwerk) gelungen, aber der Schritt zur integrierten Lösung ist erst mit der Betontechnologie gelungen (s. Darlegung Abschnitt 2.3 und 3.3.4.4).

Offensichtlich verfügen wir über unterschiedliche Strategien in der Frage der Aufnahme von Funktionen. Dies gilt nicht nur in der Gestaltung des Aufrisses, sondern auch für die Disposition im Grundriss. Die anlytische und technologisch formal überhöhte Herangehensweise von Norman Fosterhat bei der Gestaltfindung des Torre de Collserola dazu geführt, dass jede Aufgabe ihre einzelne, formal ablesbare Gestalt erhielt:

  • Druckstab aus Stahlbeton
  • additiv angefügte Fluchttreppe, Kabelbündel, Aufzug
  • abgelöste Plattformen aus Stahl
  • frei geführte Zugglieder aus Stahl und Aramidfasern

Es hat sich hierbei nicht nur das Tragwerk formal verselbständigt, sondern das gesamte Bauwerk ist in seine Bestandteile zerlegt und ist so visuell erlebbar.

Dem gegenüber zeigt der nahezu zeitgleich errichtete Fernmeldeturm Torre de Montjuic von S. Calatravaam wenigsten seine Funktion. Er nutzt ebenso die Geometrie für die Anordnung des Antennenträgers (Torusfragment), versteckt jedoch die Funktion (Antennenkörper) hinter einer weißen Verkleidung. Ihm geht es im Endergebnis nicht um die ablesbare Darstellung einer Funktion, eines Inhaltes, sondern um die skulpturale Qualität und den plastischen Gesamtausdruck.

Angesichts der formalen Bandbreite bautechnischen Schaffens bedarf es einer kulturellen Basis und eines tieferen Verständnisses von Formbildungsprinzipien (vgl. Skulpturen von Max Bill). Hinzu kommen heute die Freiheitsgrade rechnergestützter Entwürfe, welche hinsichtlich Tragwerk, Materialität und Gestalt (z. B. Oberflächenteilung) neuartiger Lösungsansätze bedürfen.

Abbildung 20: Bauformen und Gestalt im Grundriss, beispielhafte Transformationen und Über-lagerungen. Ausgangsformen: a. Kreis, b. Quadrat, c. Dreieick, d. Ypsilon, e. Vieleck und f. freie Formen. Im Ergebnis sind wesenstypische, turmartige Bauformen im Grundriss ablesbar: z. B. II b mittelalterlicher Wehrturm, V e Traggerüst nordamerikanischer Wassertürme, X a dreizügiger Schlot, X e Silostruktur

2. Materialität

Die Materialität von Türmen war, wie im geschichtlichen Überblick dargestellt, zunächst an die Verfügbarkeit bestimmter Baustoffe und an die handwerklich-baukulturelle Tradition gebunden. Neuerungen, material-technologische Entwicklungen haben zu allen Zeiten unmittelbaren Zugang in das Bauen gefunden. Aus der Sicht des Ingenieurs ist der Zeitraum ab ca. 1880 von Bedeutung, weil seitdem neben dem Einsatz neuer Werkstoffe (Stahl- und Spannbeton) eine Gleichzeitigkeit von Stahl- und Betonbauweisen, insbesondere bei technischen Bauwerken existiert. Mehr noch, es finden bis heute Übertragungen von materialspezifischen Lösungsansätzen (Intze-Patent zur Bodenausformung von Wassertürmen) vom Stahlbau auf Betontechnologien statt. Gerade die Entwicklung der Wassertürme zeigt einen steten Austausch des Materials (Holz > Gusseisenplatten > genietete Stahlbleche > Betonzylinder > Betonschale) bei gleicher Form. Schlote (Abbildung 18) bedienen sich beider Werkstoffe (Stahl und Stahlbeton) für die Tragstruktur, wobei mit Erreichen der absoluten Leistungsgrenze Betontechnologien vorrangig zum Einsatz kommen [Subba, 25].

Abbildung 21: Übersicht von Schloten hinsichtlich Materialeinsatz und Bauhöhe nach [25]. Die Kombination Ziegel / Stahlbeton stellt einen Sonderfall eines Schlotes mit konisch zulaufen-dem Stahlbetonschaft und Aufsatz in Ziegeltechnologie dar.

Richtungsweisend sind heute Herangehensweisen, welche sich keinem starren Materialkanon verschreiben, sondern aus der Effizienz der Werkstoffe, der Frage nach der Dauerhaftigkeit, der Funktion, der Technologie der Erstellung und der Wirtschaftlichkeit die erforderlichen Struktur- und Materialentscheidungen treffen. In formaler Hinsicht ist es auch kein Widerspruch, wenn eine Konstruktion auf dem Zusammenwirken mehrerer Werkstoffe beruht, vorausgesetzt, ihr Einsatz nutzt die jeweiligen Materialeigenschaften (vgl. Deckschale aus Ziegeln des Wasserturmes von Fedala durch E. Torroja) in besonderer Weise aus (Abbildung 22).

Abbildung 22: Schnitt durch den Wasserturm Fedala, Marokko, von 1957 mit ca. 40 m Spann-weite, hyperbolische Stahlbetonschale mit zusätzlichen Spanngliedern am unteren Schalenrand nach Ordonez [40]

Material- und Tragwerksüberlagerungen werden oftmals als hybride Bauweisen beschrieben. Kurt Ackermann[26] hat schon vor einigen Jahren mit Recht darauf verwiesen, dass solche Bauweisen nur dann sinnfällig sind, wenn sich durch das Zusammenwirken mehrerer Werkstoffe oder Tragwerke sich insgesamt eine Leistungssteigerung ergibt. Diese mag auch in einer größeren Schlankheit begründet sein.

Der Stahlbetonist in bestem Sinne hybrid, seine Eigenschaften vielfältig steuerbar. In seinem Erscheinungsbild ist er jedoch Abbild der Schalung und seiner Zuschläge. Frank Lloyd Wrighthatte ihm keine haptisch-ästhetischen Qualitäten zugeschrieben [Spieker, 27], dafür in seiner plastischen Formbarkeit seinen ursächlichen Wert gesehen. In der Tat ist die Wahrnehmung turmartiger Bauwerke in der Regel durch Distanz geprägt und die plastische Formbarkeit des Betons ideal zum Erreichen dieser leistungsfähigen, vertikalen Strukturen.

3. Funktion

Die Funktion ist wesentliches Unterscheidungsmerkmal turmartiger Bauwerke und Ausgangspunkt für zahlreiche Veröffentlichungen (Leuchttürme, Mühlen, Wassertürme etc.). Sie ist nicht gebunden an eine bestimmte Materialität oder Tragsystem, wie der geschichtliche Überblick und die Darstellungen in den einzelnen funktionalen Kategorien aufzeigt. Neben der Unterscheidung in technische Türme, welche zumeist spezifischen Anforderungen unterliegen (vgl. Fördergerüste und Fördertürme) folgen die sonstigen profanen und sakralen vertikalen Strukturen in der Regel dem Formen- und Materialkanon ihrer Entstehungszeit mit einem zunehmenden Pluralismus in der Neuzeit.

Auch sind die funktionalen Anforderungen einer Evolution unterworfen. Dort, wo sie wesensbestimmend (z. B. Fördertechnik) sind, werden die Entwicklungsschritte in der Bauform, in der Materialität und in der Wahl der Tragsysteme sichtbar.

Innerhalb der Kategorien erfolgt die Darstellung in der Regel nach Entstehungszeit (Baujahr) oder nach Größe, wobei signifikante, wesensbestimmende Bauarten zusammen gefasst sind. Die Abbildungen sind beispielhaft für eine Vielzahl ähnlicher Bauwerke.

Eine Reihe turmartiger Bauwerke besitzt eine funktionale Überlagerung. So sind Schornsteinbehälter (Bloom + Voss, Hamburg, u. a.), kombinierte Aussichts- und Fernmeldetürme, kombinierte Wehr- und Kirchtürme bekannt. Sie werden – soweit von Bedeutung – gemäß ihrer primären Funktion zugeordnet.

Typologisch herausragende Bauwerke oder Bauweisen sind gesondert dargestellt und textlich erläutert.

Überraschend ist die maßstabsgetreue Gegenüberstellung innerhalb der Kategorien, wobei abweichende Höhenangaben in der Literatur in vielen Fällen zu Nachforschungen Anlass gaben und in einigen wenigen Fällen ungeklärt blieben. Das Streben nach bedeutungsvoller Höhe mündet teils in Turmaufsätzen, Gittermasten und skulpturalen Überhöhungen, welche Anlass zu einer differenzierten Erfassung (Schafthöhe, Leuchtfeuerhöhe, Höhe von Sockelbauten u. ä.) gaben. Auf Fotografien innerhalb der Synopse wurde aus Gründen der Einheitlichkeit der Darstellung verzichtet und etwaige Vorlagen überzeichnet und die Herkunft im Anhang nachgewiesen.