image_pdfimage_print

Stillgelegte Industrieanlagen zugänglich machen

Autoren:
Norbert Tempel

Stillgelegte Fabrik im Bergbaurevier Monteponi auf Sardinien Bildurheberrechte: Norbert Tempel

Öffnet man eine stillgelegte Industrieanlage für Besucher, betritt der Verantwortliche eine juristische „Terra incognita“, da die geltenden Regelwerke nicht auf diesen Sonderfall eingerichtet sind. Es ist sehr aufwändig, einen Überblick über die Relevanz und Anwendbarkeit einer unüberschaubaren Vielzahl von Regelwerken (Gesetze, Verordnungen, Normen, Richtlinien, Empfehlungen) zu gewinnen.
Dieses Kapitel benennt die unabweisbaren Pflichten der Verantwortlichen, gibt erfahrungsbasierte Empfehlungen und benennt die gesetzlichen und technischen Regelwerke, die im Umgang mit einer stillgelegten Industrieanlage zu beachten sind. Dabei gehen wir stets davon aus, dass die Anlage bereits Denkmalstatus hat oder dieser in der Diskussion steht.

Sind konkrete Erhaltungsziele für eine Industrieanlage bereits bekannt (Kap. „Zielbestimmungen“), kann daraus eine planmäßige Vorgehensweise abgeleitet werden: von Bestandsdokumentation und Zustandsanalyse über die Bewertung und Planung anhand der Zielvorstellungen bis zur konkreten Umsetzung. Vorgehensweisen bei dieser Ausgangslage sind in der Literatur meist unter dem Überbegriff „Bauen im Bestand“1 vielfältig dargestellt und können dort recherchiert werden.

Gibt es aber bei einem andauernden Stillstand einer großen Industrieanlage dagegen noch keine konkrete Perspektive für die Zukunft und keine aktuellen Nachnutzung (Kap. „Nachnutzungsüberlegungen“), dann besteht die Herausforderung in der Sicherung des „Status Quo“ eines umfangreichen Bau- und Anlagenbestandes während einer langjährigen Besinnungs-, Konzeptions- und Kapitalbeschaffungsphase. Mit einer solchen „Sicherungsphase“ soll eine grundsätzliche Erhaltung einer Anlage ermöglicht werden, wenn typischerweise große Teile eines Industrieareals noch lange Zeit ohne konkrete Perspektive sind, selbst wenn Einzelobjekte bereits instandgesetzt und genutzt werden.
Die Verantwortung für eine stillgelegte Industrieanlage wirft eine Vielzahl unterschiedlicher Fragen auf, die sich im Kern auf zwei zentrale Aspekte konzentrieren lassen:

  • Was muss auf jeden Fall getan werden? („Pflichtprogramm“ aufgrund bestehender rechtlicher Verpflichtungen)
  • Welche Schritte sind darüber hinaus sinnvoll? („Empfehlungen“).

Im Vordergrund aller Überlegungen bei der o.g. Ausgangsituation müssen die Vermeidung von Gefahren und dabei zugleich die möglichst weitgehende Bewahrung des denkmalbildenden Charakters der Anlage stehen. Juristische Grundlage ist die sog. „Verkehrssicherungspflicht“.

Die Abwehr von Gefahren bezieht sich auf:

  1. Personen (Beschäftigte des Betreibers und Externe, z.B. Mitarbeiter beauftragter Firmen, Besucher, Passanten)
  2. die Umwelt.

Allen Maßnahmen muss eine Gefährdungsbeurteilung vorausgehen.

Typische Gefahrenpotentiale bei Übernahme einer Industrieanlage vom letzten Nutzer sind:

  • die mangelhafte Verkehrssicherheit von Bauwerken oder gar die fehlende Standsicherheit einzelner Anlagenteile. In der letzten Betriebsphase wird häufig die Instandhaltung vernachlässigt, „auf Verschleiß gefahren“ oder sogar wichtige Bauteile zur anderweitigen Verwertung entnommen.
  • verbliebene Gefahrstoffe: Die am Ende ihres Betriebsprozesses meist nicht mehr rentablen Anlagen werden in der Regel mit wirtschaftlich minimalem Aufwand stillgelegt. Deshalb muss man immer mit Gefahrstoffen rechnen, die aus den verwendeten Baustoffen oder aus der Produktionsvergangenheit stammen; Stoffen, die zum Ende der letzten Produktionszeit nicht mehr beseitigt oder im System zurückgelassen wurden. Zu Gefahrstoffen siehe das Kapitel „Zum Umgang mit Gefahrstoffen im Industriedenkmal.“

Wenn eine stillgelegte Industrieanlage längere Zeit in einem „Zwischenzustand“ ohne regelmäßige Wartung verbleibt, vergrößern sich die bereits bei Stilllegung vorhanden Gefahren: Schadstoffe treten aus leck gewordenen Behältern aus, die Korrosion von tragenden Bauwerkteilen schreitet voran. Diese Faktoren zeigen, dass das zeitweilig propagierte ungehinderte Zulassen von Alterung als „authentisches Zeichen einer Industriebrache“ keine realistische Perspektive ist, da es schon mittelfristig häufig zu irreversiblen Schäden und unbeherrschbaren Sicherheitsrisiken kommen wird. Dies führt zu einer dramatischen Zugangsbeschränkung zum Objekt, dem Verlust signifikanter Denkmaleigenschaften und schon darin begründet zum Verlust des Denkmalcharakters.



1. Zum „Bauen im Bestand“ siehe u.a. DBV-Merkblatt „Bauen im Bestand – Leitfaden, Fassung Januar 2008“ sowie eine Vielzahl von Publikationen, z.B. Bert Bielefeld, Mathias Wirths: Entwicklung und Durchführung von Bauprojekten im Bestand, Wiesbaden 2010; oder Horst Thomas (Hrsg.): Denkmalpflege für Architekten und Ingenieure. Vom Grundwissen zur Gesamtleitung, 2. überarbeitete Auflage, Köln 2004